Auf den Geschmack kommen

Gedanken zu Geschmackssinn und Unterricht

Geschmack ist nicht nur ein Speise – Erlebnis auf dem Weg von außen nach innen.  Geschmack ist ein umfassendes Sinneserlebnis, ein intensiver Eindruck, der deutlich trennt zwischen gut, schlecht und fade. Im Gegensatz zum Geruchserlebnis wird Geschmack erlernt. Schmecken lernen bedeutet kennen lernen und auf der Suche bleiben nach dem guten Geschmack.

1. Der Käse-Sommelier

Einer unserer AirB&B Gäste war ein französischer Käse-Sommelier, der seine Produkte zu Verköstigungen zu brachte. Als ich ihn neugierig über seine Arbeit befragte, erzählte er mir eine Stunde vom Erziehungsauftrag für den Gaumen: Schritt für Schritt seien in der Kindheit die Grenzen zu verlagern zu immer intensiveren Käsesorten, um zu Roquefort und Munster zu gelangen. Für den Käse selbst sei Reifezeit das Wesentliche – Biokäse würde häufig zu wenig lang reifen. Verdattert und dennoch überzeugt schämte ich mich meines Kühlschrankinhalts und gelobte im Stillen Besserung auf dem Weg zu mehr Zeit für Reife und Mut zu neuen Ufern.

2. Unterricht – Thermomix? Gibt es nicht

Der Unterricht ist Käse, ist gewiss kein Lob, denn Käse stinkt bekanntlich. Für die Franzosen ist das anders: „C’est du fromage!“ ist keine Verunglimpfung. Wäre also der Unterricht im französischen Sinne du fromage, lange hätte die Vorbereitung Reifezeit und Umwandlungsprozesse beansprucht. Auf diese Weise geimpft wäre der Unterricht dann in der Lage, genau diese Verlagerung zu bewirken, nämlich von einer Kompetenzstufe zur nächsten, als wäre diese nicht nur eine äußerlich messbare Fähigkeit, sondern eine innere Grenzüberschreitung in einen bislang unbekannten Raum hinein: ein Raum, der nun nicht mehr schreckt, sondern Frohlocken auslöst. Ein lieber älterer Kollege bemerkte neulich, die jungen Kolleg:innen hätten gern einen „Thermomix“, der aus ein paar Zutaten schnell die gewünschte Speise – den Unterricht – per Knopfdruck hervorzaubere. Beim Durchgestalten der Unterrichtszutaten, der Inhaltsstoffe auf dem Wege zum Geschmackserlebnis lauert nicht nur die Gefahr des Fastfood, das füllt, aber nicht nährt, sondern auch die der Verwechslung: Es geht um das innere, primär erweiternde Geschmackserlebnis der Lernenden beim Verkosten und nicht um meine Erlebnisse beim Präsentieren. Wie der Sommelier seinen unterschiedlich alten Kindern unterschiedliche Käsesorten bei einer Mahlzeit anbot, kann auch one-size-fits-all kein Weg in den einzelnen Innenraum der Lernenden sein, damit jeder den schmalen Grad zwischen Erschrecken und Frohlocken zu überwinden lernt. Und fade wäre Sünde.

3. Geschmack lernen

Geschmack zu lernen, bedeutet das Schmecken zu lernen und eine eigene Sprache dafür zu finden, eine Sprache des Bildes. Blumig-fruchtig oder harzig-herb, auf den Weinflaschen lesen wir die Bilder der irdischen Umgebung und ihre Gaumen-Noten. Ein Innenerlebnis des guten Geschmacks, wie kann das im Unterricht gelingen? Wer ist eigentlich die Köchin?

Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit in einem modernen, lichtdurchfluteten Gebäude des Architekten Paul Salzbrenner mit großen Kippfenstern und vor den Fenstern mit einem Zwischenraum angebrachten breiten Betonstreifen zur Beschattung, an weite helle Gänge, an die Beschwingtheit unserer Bewegungen, kein Zwang, nichts Drückendes, Aufschwung! Und ich erinnere mich an die innere Geschmacksexplosion, wenn ich – nachdem ich den lateinischen Satz vom Verb an aufgedröselt hatte – zur Bedeutung vordrang. Diesen guten Geschmack wollte ich auf jeden Fall weitergeben, vor allem denjenigen, die sich an solchen lateinischen Sätzen die Zähne ausbissen, als seien sie unverdauliches Leder.

Die vielfältigen Geschmacksnoten im Lernprozess bedürfen der Grundhaltung des Sommeliers in den inneren Raum hinein. Eigentlich stellen wir den Lernenden die Frage: „Wie schmeckt das denn?“, wenn wir eine Erstklässlerin fragen, was sie denn auf der Wiese beobachtet habe, ein Zweitklässler die Geschichte vom Wolf von Gubbio nacherzählt, ein Drittklässler seinen eigenen Psalm vorliest und eine Viertklässlerin schließlich frei sprechend vom Dachs in seiner Lebenswelt berichtet. Die Vielfalt an Wörtern, Redewendungen, grammatikalischen Formen haben die Kinder zuerst innerlich verkostet, um sie dann zu einem ganz eigenen Rezept zu verweben. Noten werden für diese Geschmacksnoten nicht vergeben, aber Zubereitungshinweise.

4. Unterrichtsbeispiel zu „Auf den Geschmack kommen“

Über keinen anderen Sinn als den Geschmackssinn sind wir so sehr mit dem Nährenden verbunden wie mit dem Geschmackssinn. Da, wo ein Fach zehrt, zum Beispiel das Fach Mathematik, kann die Einbettung in einen essbaren Zusammenhang das Gefühl des Genährtseins und die Verbindung zum Mathematisieren  stärken:

Eine kleine Gruppe Drittklässler:innen tat sich mit dem Rechnen im Raum bis 20 noch besonders schwer. Die Förderlehrerin plante gemeinsam mit ihnen einen Verkaufsstand für den Adventsbazar. Es sollten mit Mandeln verzierte Kekse in unterschiedlichen geometrischen Formen angeboten werden: Garantiert 20! stand schließlich auf dem Etikett. In etlichen Versuchen, wie nun auf unterschiedlichen Keksformen 20 Mandeln untergebracht werden konnten, nach vielen Zeichnungen und schließlich Rechnungen waren die Mädels in Produktion gegangen. Der Zahlenraum bis 20 war ein nährender geworden, 20 Mandeln waren keine Abstraktion mehr, sondern ließen sich am Ende vor dem inneren Auge in unterschiedliche Strukturen bringen. Der Schrecken war gebannt, die Kinder frohlockten beim Eintüten und verkauften beglückt alle Kekse bis auf die letzte Mandel.

5. Fragen an die Lehrenden

  • Welche Gebiete des Lernens verbinden Sie für sich mit den intensivsten „Geschmackserlebnissen“?
  • Wie sorgen Sie für Angebote, die vielfältige „Geschmackserlebnisse“ zulassen?
  • Wie nehmen Sie wahr, was in Ihrem Unterricht den Lernenden auf welche Weise schmeckt?
  • Wie stellen Sie fest, welche Grenze welcher Lernende als Nächstes bereit ist zu überschreiten?
  • Was wäre dafür ein passendes Angebot?

© Uta Stolz, Juni 2023