Auf die Spur kommen

Gedanken zu Geruchssinn und Unterricht

Riechen und Schule gehören zusammen. Nicht nur subtil trägt Geruch an Schulen und in Klassenräumen zum Wohlbefinden oder zum Gegenteil bei. Der fünfte Monat, der Mai, ist in unseren Breiten ein besonderer Duftmonat und so lädt er zum nächsten Sinnes-Lernthema ein: dem Geruchssinn.

1. Sprachwendungen zu Geruchsinn und Nase

Weil Gerüche uns sofort und tief erreichen, können wir uns davon nicht gut distanzieren. Sie schaffen einen Umraum, in dem wir entweder auf Abwehr gehen oder Nähe suchen, wie bei Speisen, deren „Duft uns in die Nase steigt“. Dieses angenehme Gefühl, das zur Bewegung in Richtung der Quelle drängt, dort verweilen möchte und nicht abgestoßen werden möchte, braucht es in einem guten Lernprozess: umhüllt und gleichzeitig eingeladen zu sein. Die menschliche „Chemie“ zwischen Lehrenden und Lernenden, sich „riechen zu können“ schafft ebenso einen wirk-lichen Umraum wie die Gerüche im Klassenzimmer, zum Beispiel „abgestandene Luft“. Lernende sind drauf angewiesen, dass ihnen „ein frischer Wind um die Nase weht“, damit sie „die Nase in die Dinge stecken, die sie wirklich etwas angehen“. „Naseweise“ Schüler brauchen andere Ansprache und Angebote als diejenigen, die sofort „einen guten Riecher“ haben. Wie oft hört man: „Mir stinkt’s!“ als Zeichen des Überdrusses oder noch stärker der leise Kommentar einer genervten Mutter zu ihrem Fünfjährigen, der in der Bahn die Füße nicht vom Sitz nahm: „Stinker!“ Damit die Kinder „uns nicht auf der Nase rumtanzen“ oder „uns an ihr herumführen“, müssen wir „sie vorn haben“. Sonst „haben wir sie voll“. Wie anstrengend ist es, den Lernenden „etwas aus der Nase zu ziehen“, noch weniger mögen sie „etwas unter die Nase gerieben zu bekommen“. Wie dem auch sei, als Lehrende müssen wir „ein Näschen für unserer Schüler haben“ und „uns zuerst an die eigene Nase fassen“.

Deutlich wird, dass wir mit dem Geruchsinn den eigenen gefühlsmäßigen Innenraum betreten. Hier geht es darum, dass es schön für uns ist, damit wir diesen Innenraum für das Lernen öffnen können.

2. Geruchsraum

Wir bilden also einen Geruchsraum nicht nur für das wohlige Grundgefühl der Lernenden, sondern für ihre Neugier, ihre Lernbegier. Bevor das Einführen, die eigentliche Lernarbeit losgeht, bereiten wir den Tisch mannigfaltig. Im Zusammenklang mit Raumgestalt, tatsächlichem Geruch, den Gegenständen, die wir auswählen, sorgen wir dafür, dass zum bekannten, angenehmen Duft im Raum eine neue, interessante Duftnote im übertragenen Sinne entsteht, so wie es Daniel tat, ein besonders begabter Schüler einer meiner ersten Klassen, als er sein Referat über die Königin der Nacht hielt:

Etliche Gegenstände ordnete er für die stille und gespannte Klasse sichtbar an: das Plakat mit den Bildern und Icons an die Tafel, eine geheimnisvolle Dose auf den Boden und eine Glasschale mit einer verdorrten Pflanze und einer Wasserkanne daneben auf den Pult. „Wenn wir den Namen Königin der Nacht hören, erinnern wir uns sofort an Mozarts Zauberflöte… “,  waren seine ersten Worte. Alle Sinne der Erstklässler waren auf Daniel gerichtet, noch inniger wurde diese lauschende Stille, denn da war sie, die neue, interessante Duftnote! Im Laufe seines spannenden Vortrages, nahm Daniel die Dose in die Hand und öffnete sie während des Sprechens: „Wenn ihr wissen wollt, wie sie riecht, die Königin der Nacht, hier habe ich Kekse gebacken.“ Er ging an den Gruppentischen vorbei und alle sogen den vanilligen-schokoladigen Duft ein. Natürlich hatten Eltern im Hintergrund mitgewirkt, das selbst gewählte Thema des Referats auf zubereiten. Dennoch war es Daniel selbst, der souverän im wahrsten Sinn des Wortes diesen Geruchsraum für seine Klasse gestaltet hatte. Vielleicht hatte ich nur „den richtigen Riecher“ gehabt, ihn zu fragen, ob er ein Referat halten wolle.

3. Der richtige Riecher

Wir saßen im Morgenkreis in der vierten Klasse. In unserer Mitte lagen vorbereitet Kartenstücke von Deutschland mit groben Umrissen, sechs an der Zahl, für die sechs Arbeitsgruppen. Es klopfte und Naomi, ein schüchternes, hochgewachsenes Mädchen kam mit ihrer Mutter zu Besuch in unsere Klasse. Sie setzte sich in den Kreis am Boden, die Mutter hinter sie auf einen Stuhl, bereit die ganze Zeit bei ihr zu bleiben. Bei Naomi war Hochbegabung diagnostiziert worden und sie litt aus verschiedensten Gründen an ihrer Grundschule. Interessiert folgte sie den Gesprächen zum Thema, wie nun diese Kartenstücke zu bemalen seien als Grundlage für ein späteres Spiel zum Thema Deutschland. Nach zwanzig Minuten drehte sie sich zu ihrer Mutter um: „Du kannst gehen!“ Naomi blieb weiterhin als jüngste Schülerin bei uns, eine gewissenhafte Lernerin, den anderen zwar häufig um „eine Nasenlänge“ voraus, aber glücklich, ihre Gaben für ihr eigenes Lernen nutzen zu dürfen in einem Lernraum, der sie verlockte.

4. Unterrichtsbeispiel zu „Auf die Spur kommen“

Fritz war gerne laut und deutlich, Zuhören war nicht seine Stärke, dafür alles Handfeste, auch im Unterricht. Er saß in der dritten Klasse vorn in der ersten Reihe. Ich musste die Klasse als Horterzieherin im Epochenunterricht vertreten und kannte Fritz. Ich sollte das Thema Wiegen unterrichten und Fritz war mein Ziel: er sollte auf seine eigene Weise dem Wiegen „auf die Spur kommen“ können, „eine Spürnase für Gewichte“ handlungsorientiert entwickeln, bevor es ins Rechnen und Umrechnen ging. Die Kinder hatten die Aufgabe erhalten, verschieden große Kieselsteine mitzubringen und ein Schülervater, selbst begnadeter und engagierter Montessorilehrer, hatte für eine Vielfalt an Wagen gesorgt. Fritz legte los. Er wog und spürte, er tastete und bewegte auf der Suche danach, wieviel von einem Stein das Gewicht des anderen war. Er ordnete seine Steine und beschriftetet sie: F1, F2, F3 bis F7. Er zeichnete und trug die Verhältnisse in eine Tabelle ein. Der Übergang von einer Handlung mit dem Einsatz aller unteren Sinne war gelungen und zusätzlich dieses „der Spürnase“ ähnliche Denken entstanden auf dem Weg von einer äußeren Erfahrung zu einem inneren Erleben. Fritz hatte während dieses Tuns alles um sich herum vergessen und wäre noch nach dem Pausenläuten bei F1, F2 und F3 geblieben.

In der Erinnerung an diese meine ersten Stunden als Vertretungsklassenlehrerin 1990 an der Freien Waldorfschule Kreuzberg und der Hinwendung zum Thema Riechen, steigen besondere Erinnerungen hoch: der Spaziergang (einer der letzten) mit meiner Mutter im Park Sanssouci, wie wir an einer Baumwurzel ein paar blaue Blümchen ausgegraben haben, um eine Tonschale für den Jahreszeitentisch zu bestücken. Und weiter denke ich sowohl an das Haus meiner Großeltern als auch das Haus meiner Eltern, in denen es immer nach leckerem Essen und nach Büchern duftete. Ich weiß jetzt, dass es auch diese tiefen Geruchserlebnisse meiner Kindheit waren, die mich als Lehrerpersönlichkeit geprägt haben: Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit innerhalb gesunder Lernprozesse zu verbinden.

5. Fragen an die Lehrenden

Welche Geruchserlebnisse können Sie mit Ihrer Lehrerpersönlichkeit verbinden?
Wie versorgen Sie die Chemie in der Klasse, so dass sich die meisten riechen können?
Was hat sich für Sie im Unterricht bewährt auf der Schwelle, das äußere Handeln der Lernenden in einen feinen Innenraum zu lenken?
Wie gestalten Sie den tatsächlichen Geruchsraum?
Gibt es etwas, dem Sie beim Lesen dieses Artikels auf die Spur gekommen sind?

© Uta Stolz, Mai 2023