Halten und Tasten

Gedanken zu Tastsinn und Unterricht

Zu Jahresbeginn möchte ich Sie mitnehmen, den Weg durch die von Rudolf Steiner beschriebenen zwölf Sinne mit mir zu gehen, tastend zuerst:

  1. Tasten der Lernenden
  2. Tasten in der Diagnostik
  3. Halten und Tasten der Lehrenden
  4. Unterrichtsbeispiel zum „Tasten“
  5. Fragen an die Lehrenden

1. Tasten der Lernenden

Katja sitzt in der ersten Reihe in der vierten Klasse und schaut ihren Lehrer an, der vor ihren Augen am Tage der Einführung des Bruchrechnens bunte Pappscheiben zerschneidet: ein großes Quadrat in vier kleine Quadrate. Katja wird mit dem Förderschwerpunkt Lernen im gemeinsamen Unterricht beschult. Während einige Mitschüler:innen schon eifrig aufstrecken, streckt sie ihre Hände nach den Pappteilen aus, tastend. Sie ist sich vielleicht unsicher, ob sie das darf. Während das Unterrichtsgespräch über ihren Kopf hinweg stattfindet, legt sie die Teile wieder zum Ganzen zusammen und hält wiederum über das Ganze tastend und schützend ihre Hände. Sie bilden eine Hülle. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, aber das vieler anderer Kinder in der Klasse, während sie sich innerlich in die Fragestellungen des Lehrers hinein tasten.

2. Tasten in der Diagnostik

Wenn ein sonderpädagogisches Gutachten entsteht, nehmen die Gutachter:innen eine Haltung ein mit den Fragen: Wer bist du und was hat du dir schon auf welche Weise angeeignet? „Ich nehme gar nicht so gern die standardisierten Tests,“ eröffnet mir ein alter Hase kurz vor seiner Pensionierung. Herr K. vom Schulamt ist für die Erstellung sonderpädagogischer Gutachten auch an Waldorfschulen zuständig. „Sie lassen mir keine Freiheit, ins Gespräch zu kommen und so zu reagieren, wie es mir im Moment richtig erscheint. Ich muss mich doch heran tasten.“ Ein Herantasten also gleichsam ins Innere des Kindes, in den sprachlichen und mathematischen Entfaltungsprozess hinein, auf der Suche nach den Ankern, welche die Lerner:in selbst schon auswerfen kann oder von den Lehrenden noch benötigt, um sich zu orientieren.

„Dieser Tastsinn ist eigentlich dazu bestimmt, dass wir unser Ich … geistig ausstrecken durch unsern ganzen Körper. Und die Organe, welche die Organe des Tastsinns sind, geben uns eigentlich ursprünglich im inneren Erleben unser Ich-Gefühl, unsere innerliche Ich-Wahrnehmung.“

Beide Seiten beinhaltet der „Tastsinn“: das passive Gehaltensein, wodurch ich meine Grenzen spüre, Sicherheit empfinde und das aktive Tasten in das Neue hinein, um mein eigenes Inneren zu erweitern.  „Eine interessante Formulierung wählt Rudolf Steiner für die Wirkung des Tastsinns: Er spricht von einem Anfachen der eigenen Ich-Erlebnisse durch die Berührung.“ Also Tasten und „Ausstrecken“ auf dem Wege zum Ich-Erleben im Kontakt mit der Welt gehören zusammen, eine erste Zündung. Dabei kommt den Händen eine besondere Bedeutung zu: „Unser Tastsinn ist vor allem an Gesicht, Hand und Zunge gekoppelt. In unserer Haut haben wir dort die größte Dichte der vier verschiedenen Tast-Körperchen. Oft haben wir auch das Gefühl, dass unsere Hände wie „Tastaugen“ sind.“ Gibt es „Tastohren“?

3. Halten und Tasten der Lehrenden

Wie gelingt es den Lehrenden, den Lernenden Anstoß zu diesem Berührtsein zu vermitteln und sie gleichzeitig zu „halten“? Starke Säulen im Sinnes des Classroom-Managements nach Evertson  sorgen dafür, dass die Lernenden Sicherheit erleben und gehalten sind:

  • Strukturierung des Raumes, des Ablaufs, der Aktivitäten, Materialien
  • Planung und Unterrichtung von Regeln und unterrichtlichen Verfahrensweisen
  • Grenzen benennen und Konsequenzen festlegen
  • Schaffung eines positiven (Lern-) Klimas im Klassenraum
  • Beaufsichtigung bzw. gezielte Beobachtung der Lernenden
  • Angemessenes Vorbereiten von entwicklungsadäquatem Unterricht

Das Tasten von uns Lehrenden beinhaltet zuallererst den Handschlag. Nicht nur für Waldorfschulen gilt dieser Vorschlag:

  • Begib dich rechtzeitig in dein Klassenzimmer bevor deine Schüler:innen kommen.
  • Richte dort alles Nötige her.
  • Entspann dich.
  • Begib dich dann zur Klassenzimmertür.
  • Nimm deine Schüler:innen dort per Handschlag in Empfang.
  • Lächle deinen Schüler:innen freundlich zu.
  • Schau deinen Schüler:innen bei der Begrüßung in die Augen.
  • Fordere von deinen Schüler:innen ein, dass diese deinen Blickkontakt erwidern.
  • Sprich deine Schüler:innen, wenn möglich, mit Namen an.

Das innerliche Tasten des Lehrers ist aus meiner Sicht eine Haltungsfrage. Offene Fragestellungen helfen, einen solchen Raum zu schaffen, in dem wir die Schüler:innen beobachten können. Alle schülerzentrierten Arbeitsformen entlasten mich als Lehrende und ich kann die Rolle des Coachs einnehmen: innerlich tastend verstehen, was die Lernenden bewegt, was sie meinen, wie sie arbeiten, um zum Schluss entscheiden zu können, was wer von mir benötigt.

Vielleicht liegt in den beiden Funktionen: Klar führende Lehrerpersönlichkeit sein und  Hinüberschwingen zur lernbegleitenden Geste des Coachs der Schlüssel, um die Gaben des Tastsinns für das Unterrichten auf einer Metaebene zu verstehen und zu nutzen:

  • Klar führen, den Rahmen gestalten und halten
  • Zart zurücktreten, beobachten und tasten

Beides in einer Person zu vereinigen, erfordert Können und Kunst.

4. Unterrichtsbeispiel zum Tasten

Es war Valentinstag. Die Erstklasslehrerin entwickelte aus den beiden Händen (der Liebenden) das Bild für die beiden Hände, die zusammen gehören. Die Kinder ahmten ihre Gebärde nach und führten zuerst die eigenen Hände zusammen, dann begrüßten sie sich einander mit Handschlag. Fünf und Fünf gehören zusammen und die zehn Finger  gehören immer zusammen. Das hatten die Kinder verstanden, liefen durch die Klasse  und bei jedem Gruß schmetterten die beiden, die sich trafen: 5 und 5 ist 10, guten Tag, Aufwiederseh’n! Da klopfte es und tatsächlich stand der Mann der Lehrerin vor der Tür mit einem Strauß roter Rosen, den sie strahlend in Empfang nahm. Die 24 Kinder, an das Tätigsein gewöhnt, sollten nun alle in das weitere Handeln einbezogen sein:

1 Kind holte die große Vase und füllt Wasser ein.

1 Kind stellte die Rosen hinein.

10 Kinder nahmen auf Anforderung je eine Vase aus einer Kiste und füllten Wasser hinein.

10 Kinder stellen je eine Rose hinein, die sie der großen Vase entnahmen.

1 Kind ordnete die Vasen auf dem Pult in einer langen Reihe.

1 Kind verschob sie so, dass eine Lücke in der Mitte zu sehen war.

Alle Kinder zeichneten das Bild der 10 Rosen ab.

Als Hausaufgabe diktierten die Kinder diese Valentinsgeschichte ihren Eltern bzw. den Horterzieher:innen. Nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern waren von diesem Unterrichtstag berührt.

5. Fragen an die Lehrenden

  • Was ist meine starke Seite: das Halten oder das Tasten?
  • Welche drei Aspekte dazu möchte ich in den nächsten Wochen beherzigen?
  • Kann ich meinen Unterricht mit „Tastangeboten“ , die Lernen stützen, erweitern?
  • Was sind meine ersten drei Ideen?
  • Was haben die Gedanken zum Tasten und Unterrichten mir gegeben?

© Uta Stolz, Januar 2023

1 Rudolf Steiner, Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte. GA 170.