Im Gleichgewicht sein
Gedanken zu Gleichgewichtssinn und Unterricht
Der bewegte Weg hinein in ein Unterrichtsgeschehen, im Austausch zwischen Innen und Außen, hat Stimmigkeit zum Ziel, das innere Gleichgewicht beim Lösen einer „Aufgabe“. Dieses vierte Thema begleitet uns in den April.
Gleichgewicht empfinden, Stimmigkeit herstellen
Levin fällt das Lernen nicht leicht, deshalb bekam er besondere Angebote und in einer engen Bildungspartnerschaft wurden die schulischen Maßnahmen besprochen, verändert und ergänzt. Immer wieder geschah es in der ausklingenden Mittelstufe, dass Levin den Kopf im Unterricht auf das Blatt sinken ließ und damit aus dem Lernprozess ausstieg. Ihn selber beeinträchtige das sehr und so nahm er gern die vorgeschlagene Heileurythmie mit dem Ziel der Stärkung des Gleichgewichts in Anspruch. Im Auswertungsgespräch nach einem halben Jahr bemerkte Levin Fortschritte, meinte aber: „Kann ich das noch einmal buchen, ich befürchte, dass sonst die Wirkung rückläufig sein kann.“ Das konnte er und nach einem Jahr fühlte er sich gefestigt. Interessanterweise zeigte sich die Wirkung vor allen Dingen im Sozialen: stand Levin vorher noch am Rande, war er nun als Klassensprecher gewählt und setzte sich für das soziale Gleichgewicht in der Klasse ein. Levin formulierte Unstimmigkeiten, suchte nach Lösungen für die Gemeinschaft und erlebet sich in diesem Feld als selbstwirksam.
Gleichzeitig konnte er sein Lernentwicklungsziel: „Ich bleibe aufrecht im Lernprozess.“ erreichen.
Gleichgewichtssinn in der Diagnostik
Die von Rudolf Steiner so bezeichneten Unteren Sinne haben wir nun besprochen. Im Zusammenhang mit Diagnostik denke ich immer an den Begriff: das Konzert der Unteren Sinne (Christel Lucas, ehemalige Dozentin bei Stolz Lernen). Diese vier basalen Sinne wirken wie ein Orchester zusammen und spielen in ihrer Vernetzung eine tragende, beruhigende und ermöglichende Rolle. Sie greifen ineinander, nie ist nur eine Sinnesmodalität aktiv. Dem Gleichgewichtssinn kommt dabei besondere Bedeutung zu, die Wahrnehmung der Lageveränderung über die drei Bogengänge im Innenohr ist nicht nur mit dem optischen System verbunden, sondren über den Nervus vagus auch an das vegetative Nervensystem angeschlossen. Im Gleichgewicht sein betrifft also nicht nur den körperlichen, sondern auch den emotionalen und mentalen Bereich. Auf der anderen Seite wirken gezielte Gleichgewichtsübungen auch auf den ganzen Menschen:
„Die Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe wiesen bei der Enderhebung eine signifikant bessere Gleichgewichtsleistung auf als die Kinder in der Kontrollgruppe. Sie zeigten eine signifikant bessere Lesefähigkeit, bessere Leistungen im Mathematiktest und eine Tendenz in der Verbesserung der Rechtschreibleistung. Es stellten sich in der Interventionsgruppe positive Effekte in Hinblick auf Feinmotorik, Auge-Hand-Koordination, Lernfreude, Schuleinstellung und weitere emotive Faktoren heraus.“ 1
Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen dem statischen und dem bewegten Gleichgewicht, so kann für Kinder eine langsame Drehung mit geschlossenen Augen eine weit größere Herausforderung sein als auf einen Baum zu klettern.
Folgende Symptome könnten auf Probleme mit dem Gleichgewichtssinn hindeuten:
Neigung zu Schwindel, z.B. beim Autofahren in Kurven
Neigung zu Übelkeit oder Unwohlsein
Unsicherheit im Gang, Schwierigkeit auf einem Bein zu stehen
Schwierigkeiten mit der Sehverarbeitung und der Augen-Hand-Koordination
Diesen diagnostischen Blick erwerben Lehrende in entsprechenden Weiterbildungen.
Als Menschen müssen wir entgegen der Wirkung der Schwerkraft unser Gleichgewicht immer selbst erringen, damit wir aufrecht bleiben können. Dieser Prozess beginnt direkt nach der Geburt und ist vor allen Dingen auf dem Weg zum Stehen und Gehen eine tägliche Herausforderung. Jede Beeinträchtigung auf diesem Weg schwächt unsere Gleichgewichtsarbeit an uns selbst. Gleichgewicht und innere Stabilität hängen eng zusammen.
Für den Blick ins Klassenzimmer und auf die Lernenden helfen folgende Fragen:
In welchen Situationen kommt ein Lernender aus dem Gleichgewicht?
In welchen Situationen wirkt ein Lernender ausgeglichen?
Oft hilft es schon Situationen zu vermeiden, welche die innere Gleichgewichtsarbeit zu sehr herausfordern. So hätte Levin bestimmt von maßgeschneiderten Aufgaben profitiert, die genau auf seine Fähigkeiten zugeschnitten sind.
Gleichgewicht schaffen
Nun ein Blick auf die Gesamtheit der unteren Sinne: „Dagegen alles das, was mit Gleichgewichtssinn, Bewegungssinn, Lebenssinn zusammenhängt und auch mit dem Tastsinn, obwohl es da schwerer zu bemerken ist, weil der Tastsinn sich ins Innere zurückzieht, alles das ist willensverwandt. Im menschlichen Leben ist eben alles mit- einander verwandt und doch alles wiederum metamorphosiert.“ 2
Für uns Lehrende kommt es vor allen Dingen auf das „Metamorphosierte“ an, auf die Auswirkung der Unteren Sinne im Handeln, Zeichnen, Sprechen und Denken der Lernenden und wie wir darauf im Unterricht reagieren können, ohne auf der Ebene der Sinneschulung zu verharren. Hier muss ich wieder an den Satz meiner Dozentin Annemieke Zwart aus den Niederlanden denken: „ Wie können als Lehrende nur mit dem arbeiten, was die Lernenden haben, nicht mit dem, was nicht da ist.“ Mit anderen Worten, wir können nicht warten, bis sich Fähigkeiten durch Förderung eingestellt haben, sondern das Unterrichten selbst muss gleichzeitig Heilmittel sein und Vermittlung neuer, tragfähiger Kompetenzen sein. Für eine bewegungsorientierte Lernförderung brauchen wir ausgebildete Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten.
Unterrichtsbeispiel zu „Im Gleichgewicht sein“
Eine neue Schülerin war am Montag, an dem die Negativen Zahlen eingeführt wurden, zum ersten Mal bei uns. Auf allen Tischen fanden die Lernenden eine Installation mit einem Taschenspiegel und einem davor auf den Tisch geklebten Maßband vor. Sie sollten entweder abzeichnen oder aufschreiben, was sie sahen. Danach entspann sich ein Gespräch darüber, welchen Sinn es machte, die Zahlen spiegelverkehrt zu schreiben, wie wichtig die Winkel waren, oder ob es für das mathematische Verständnis reichte, einfach eine an der Null gespiegelte Zahlengerade zu Papier zu bringen.
Im Rückblick auf besondere Lernmomente am Ende der achten Klasse sagte L.: „An diesem ersten Tag in der Waldorfschule lernte ich, dass es nicht um ein Richtig und Falsch geht, sondern dass jeder sich auf seine Weise äußern darf. Es ging nicht darum, dass das Ergebnis stimmt, sondern zuerst darum, wie es für mich stimmig war..
Fragen an die Lehrenden
- Mit welchen äußeren Strukturen stütze ich eventuell nicht ausgereiftes inneres Gleichgewicht?
- Mit welchen lebendigen oder lebensechten Lernumgebungen begünstige ich zielgerichtete Bewegung der Lernenden, die sich zu viel oder zu wenig (äußerlich oder innerlich) bewegen?
- Mit welchen fördernden oder fordernden Gesten und Angeboten erreiche ich ein wohliges Grundgefühl bei den Lernmutigen oder Lernängstlichen?
- Wie erlange ich die eigene Kraft zu halten und das eigene Loslassen zum Tasten?
© Uta Stolz, April 2023