In Bewegung kommen

Gedanken zu Eigenbewegungssinn und Unterricht

Wenn wir einen lebendigen Zugang gefunden haben, eröffnet sich ein Bewegungsweg, der äußere und innere Bewegung verbindet: der dritte Schritt für den Monat März.

1. Die Bewegung selbst steuern

Die Kinder der dritte Klasse hatten sich schon ausgiebig bewegt, waren über Bänkchen geturnt und beschäftigten sich nun mit dem Thema Multiplikation. Ich saß neben H., dem Hochbegabung diagnostiziert worden war, und der im Fach Mathematik in seinem Element war. Er stürzte sich auf die Aufgaben und als plötzlich die Lehrerin rief: „Kinder, jetzt müssen wir uns wieder bewegen!“ und allerlei Rhythmen im Kreis vorgab. H. flüsterte mir zu: „Das macht sie immer. Wenn wir gerade so schön rechnen, müssen wir wieder irgendwelche Bewegungsübungen machen!“

Ein weiteres Beispiel, ganz anders geartet: E. lernt bei mir Mathematik. Sie ist eine großartige Lernerin mit eigenem Zugang zur Welt, der sich „Geistige Entwicklung“ nennt. (Das heißt für mich: E. hilft uns in unserer eigenen geistigen Entwicklung). Sie zeigte mir missmutig ihre schulischen Arbeitsblätter. „Komm hilf mir, wir stellen Gläser auf den Tisch!“ Diese ordneten wir gemeinsam in zwei Zehnerreihen mit der Lücke zwischen jeweils Fünf und nun begann das Spiel mit den leeren und vollen Gläsern in einem äußeren Bewegungsgeschehen. Jetzt verstand sie die „Minusaufgaben“ im Raum 20 und strahlte wieder.

Bewegung, mit der wir ein Ziel erreichen, beglückt und in dieser zielgerichteten Bewegung möchten wir Menschen ungern gestoppt werden, denn dann fließt alles und wir sind im FLOW. Csikszentmihalyi beschreibt Flow als inneres Freiheitserlebnis.  Das kann eine innere Bewegung sein, oder (scheinbar nur) äußere Bewegung. Ein mathematisch hochbegabtes Kind wie H. verfügt über einen Sinn für die eigene innere Bewegung im „Zahlenland“, einen hochaktiven Zahlensinn2, der gleichsam natürlich in diese Welt hineingreift. Ihm wird „Eigensinn“ zugeschrieben.

E. lernt über die äußere Bewegung in einem lebensweltlichen Kontext innere Denkbewegungen aufzubauen und zu erkennen. Auch E. profitiert nicht von „irgendwelchen“ Bewegungen, sondern von zielgerichteten Bewegungen im Feld Mathematik. Auch sie hat einen ganz „eigenen Sinn“ im Zugang zur Welt.

2. Eigenbewegungssinn in der Diagnostik

„Hier setzt die Aufgabe des Eigenbewegungssinnes an. Er muss, wie sein Name sagt, die eigene Bewegung des Menschen wahrnehmen. Sein Organ ist die Summe unendlich vieler Dehnungs- und Spannungsrezeptoren in den Sehnen und Muskeln, die durch Nerven mit dem Rückenmark und damit auch mit dem Gehirn verbunden sind, und die auf jede Spannungsänderung des Muskels reagieren. Die Wahrnehmung des Muskels geschieht über die Nerven. Dass der Muskel sich dann bewegt, dass er tätig wird, das wird über den Blutstrom mit seinen vielfältigen Stoffwechselprozessen vermittelt.“ 3 In einem Umfeld, in dem eigene sichere Bewegung für Kinder in den Jahren vor der Schule möglich ist, reift dieser Sinn. „Fremdgesteuerte“ Bewegung wie tragen, schieben, im Auto transportieren und vor Medien sitzen verhindern die natürliche Reifung. Zu einer Diagnostik des Eigenbewegungssinnes gehören nach Audrey McAllen 4 der Blick auf:

  • Geschicklichkeit innerhalb der drei Raumesebenen
  • Augen-Hand-Koordination und Visumotorik
  • Stifthaltung und Feinmotorik
  • Lateralitätsentwicklung
  • Muskeltonus
  • Beeinträchtigung durch unreife Bewegungsmuster wie zum Beispiel Frühkindliche Reflexe, vertikale und horizontale Mittellinie.

Die Grundfrage ist dabei: steuere Ich meine Bewegungen und tragen sie mich oder steuern mich meine Bewegungen? Für den Unterricht ergeben sich folgende diagnostische Fragen:

  • Wann kommt das Kind in (eigene) Lernbewegung?
  • Kann es die Lernbewegung durchhalten?
  • Kann es die Lernbewegung beenden?
  • Kann es im Anschluss auf das Lernergebnis wieder zugreifen?

Für die inneren Bewegungen, die Denkbewegungen, ist es nicht so einfach, denn wir können sie nicht von außen erkennen. Wir können uns zuhörend nähern. Zuhören, wenn Kinder sprechen, ihre Sätze bilden, ihr Handeln sprachlich begleiten oder sich an eigenes Handeln erinnern. Gleichzeitig können wir die äußeren Bewegungen anschauen. Diagnostik braucht immer das Gespräch als Verbindung zwischen Innen und Außen. An dieser Stelle scheitern lehrerzentrierte Ansätze.

Wenn uns die „langsame“ innere Bewegungsgeschwindigkeit einer Lernerin im Aufnehmen, Verarbeiten, Wiedergeben und langfristig Behalten auf Dauer wundert, kann ein Intelligenztest Klarheit vermitteln. Denn genau diese innere Geschwindigkeit wird in unterschiedlichen Bereichen „gemessen“ und schützen den langsam Lernenden vor Unterrichtsangeboten und Anforderungen, die nicht passen. Sehr viel mehr äußere Bewegung im Umgang mit Materialien oder in den handwerklichen Fächern ist dann gefordert, immer gepaart mit Sprechanlässen auf dem Weg zu innerlichen Denkbewegungen.

Die Bewegungsdiagnostik an sich setzt eine entsprechende Weiterbildung in diesem Bereich voraus.

3. Beweglichkeit der Lehrer

Vorsichtig Tastende sein, klar den Rahmen halten, Zehrendes vermeiden, Nährendes vermitteln, ja, was müssen wir noch alles können? Ich glaube, es ist wichtig, diese innere Beweglichkeit in sich selbst aufzubauen, zu schulen, zu überprüfen. Interessanterweise meldet sich im Unterrichtsentwurf leise der „Eigensinn“ der Lehrerpersönlichkeiten, wenn der Aufbau nicht ganz schlüssig ist. Es ist dieses dem Lebenssinn geschuldete Unwohlsein, das den Auftakt zu einer erneuten inneren Bewegung in sich birgt, wenn wir ihn nicht überhören. Veränderung hat mit Bewegung zu tun. Veränderung ist der Motor für Unterricht schlechthin, denn wir wollen, dass die Lernenden mit uns das Ufer des Bekannten verlassen und sich auf den Weg zu einem neuen Ufer einlassen. Wenn ich als Lehrerin glaube, dieses neue Ufer schon zu kennen, verhindere ich die eigene Beweglichkeit. Sie besteht darin, sich zum mir und den Lernenden Unbekannten hinzuneigen, auf der Suche nach eigenem Erkennen.

4. Unterrichtsbeispiel zum „In Bewegung kommen“

Es war Montag früh und für die Abiturientinnen stand in der 13. Klasse im Fach Englisch das Thema „deep fake“ auf dem Plan. Langsam füllte sich der Raum, während der junge Lehrer – fast wortlos- einige Videos zeigte und schließlich in wenigen Worten Fragen stellte. Er selbst bewegte sich kaum, war wenig zu sehen. Vereinzelt tröpfelten die Antworten. Nun teilte er vier Gedichte aus, zwei waren von einer KI erstellt. Den Lernenden gelangen auf Anhieb Unterscheidung und Erklärungen. Eine gute Stunde später hatte es schon zur Pause geläutet und alle waren in gemeinsame englische Gespräche vertieft, innerlich bewegt vom Thema, von den Aufgaben, voneinander und nahezu unbeweglich stand der Lehrer am Rand, achtsam, freundlich, zugewandt, immer wieder bestätigend oder fragend. Er hatte auf fast magische Weise den „Leeren Raum“ nach Peter Brook eröffnet, die noch trägen anfänglichen Bewegungen zugelassen und nicht die Bühne mit eigenen Bewegungen erfüllt, sondern der zeitweisen Stille den Raum gelassen, bis seine Schülerinnen den Montag Morgen besiegt hatten. Ausnahmslos alle waren in Bewegung gekommen.

5. Fragen an die Lehrenden

  • Wo gelingt es mir äußere Bewegungen mit dem Lernstoff zu verbinden?
  • Zu welchen drei Themen möchte ich selbst mehr in Bewegung kommen?
  • Wie kann ich einem bewegungsaffigen Lernenden entgegen kommen, ohne sie „eine Runde um den Block“ zu schicken?
  • Wie steht es mit meiner eigenen inneren Beweglichkeit?
  • Wann gelingt es mir, die inneren Beweglichkeit derjenigen Lernenden anzuregen, die sich eher zurückhalten und wie nehme ich das wahr?

Uta Stolz, März 2023

2 Dehaenetanislav Der Zahlensinn, Basel 1999
3 Steiner, Rudolf, Geisteswissenschaft und Medizin, Vortrag vom 23.3.1920, GA 312, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 71999
4 Audrey McAllen ???