Leben und Sinn

Gedanken zu Lebenssinn und Unterricht

Der nächste Schritt im Jahr ist auf das zu schauen, was lebendig macht und was devitalisieren könnte. Aus einem belebenden Erlebnis schöpfen wir Kräfte, auch Lernkräfte.

Lernmut und Lebenssinn der Lernenden

Aus der Wahrnehmung heraus, dass trotz allen inklusive Bemühungen manche Lernenden der zweiten Klasse in der großen Klasse überfordert waren, entstand die kleine Gruppe der „Schatzgräber“, die rasch nach dem gemeinsamen Auftakt in der Klasse mit der zweiten Lehrerin in einen Differenzierungsraum verschwanden. Es waren vier der „traurigen, ängstlichen und unruhigen“ Kinder, denen Henning Köhler ein ganzes Buch gewidmet hat 1, und ein Kind, das mit dem Downsyndrom lebt.

Mitten im kleinen, gemütlichen eingerichteten Raum, der mit den Lernprodukten der Kinder geschmückt war, stand eine verheißungsvolle Schatzkiste. Die Kinder sammelten sich im Kreis darum herum und staunten beim Öffnen nicht schlecht, was sie fanden: Honig, Nutella, ein Glas Apfelmus, Zimt und Zucker.  Ein Gespräch entspann sich: Wie mag ich meinen Eierkuchen? Gleichzeitig war dies ein Schreibanlass, zu dem die einen vorgefertigte Sätze beendeten, die anderen eigenständig schrieben und der Junge mit dem Downsydrom die Wortkärtchen zu den Gegenständen stellte und anschließend Bilder mit Karten in sein Heft klebte. Alle waren versorgt und freuten sich schon auf den nächsten Tag der „Eierkuchenwoche“. Ihr Lernmut war innerhalb dieses lebensnahen Kontexts erwacht. Die Kinder hielten mit diesem „Mut“, getragen von einem wohligen Grundgefühl, die eigene Arbeit aus, die jeder für sich allein in seinem Heft erledigen musste, da wo sie in der großen Klasse den „Mut“ so schnell verloren hatten. In der kleinen Gruppe gelang „Heilung“ und damit Vitalisierung so gut, dass die Schatzgräber täglich nicht nur nach äußeren Schätzen, sondern vor allem nach ihren inneren Schätzen weiter graben durften.

Lebenssinn in der Diagnostik

„Für diese Art der Wahrnehmung haben wir Menschen einen Sinn – den Lebenssinn, der ein Sinn für Vollkommenheit, für Komplexität, für den ganz großen Zusammenhang ist, für die Ganzheit, die Schönheit, die Güte, die Harmonie des Ganzen. Der Lebenssinn ist ein Harmonie-Sinn.“  Wenn in der Wahrnehmung des Individuums die Harmonie gestört ist, wenn das Kind im Unterricht nicht bekommt, was es zu seinem wohligen Grundgefühl benötigt, kann es nicht „mitschwingen“ und elastisch zwischen Zupacken und Loslassen wechseln. Es reißt gewissermaßen – vielleicht nur punktuell – ein Faden, der Faden, der die eigene Vergangenheit mit der eigenen Zukunft verbindet. Lernen braucht immer Mut. Ich habe von Annemieke Zwart aus den Niederlanden, meiner Dozentin zum Thema Lernen, nicht nur für „Rechnen in Bewegung“, sondern auch für „Sprache im Bild“ Ende der Neunzigerjahre gelernt, den Lernmut beim Lösen einer Aufgabe, um das „Schwarz“ des noch nicht Wissens oder Könnens zu überwinden, mit den Früchten des Lebenssinns gleichzusetzen, der das „Schwarz“ der Nacht überbrücken kann und gesunde Menschen mit einem wohligen Grundgefühl erwachen lässt. Hier zeigt sich der von Rudolf Steiner angedeutete Zusammenhang zwischen dem Lebenssinn und dem Gedankensinn. „Was verborgen ist im Lebenssinn, wird offenbar im Gedankensinn.“  Wahrnehmen in einen Gedankenraum hinein erfordert Verbindungen schaffen. Mit einem belasteten Lebenssinn, ganz besonders nach traumatischen Situationen, es kann aber auch nur ein unausgeschlafener Zustand sein, „bringe ich es nicht mehr zusammen“.  Aus dem punktuellen „ich schaffe das jetzt nicht“ droht ein flächendeckendes „ich kann das nicht“ zu werden, wenn es auf Dauer keine helfenden und heilenden Angebote gibt. Diese Gedanken devitalisieren dann gleichsam in einem inneren Dialog (Betz-Breuninger: Wirkungsgefüge des Lernens ) den Lernenden.

Für die Diagnostik können Lehrer zwei einfache Fragen stellen:

Was zehrt?

Im Beschreiben von zehrenden Situationen erlangen wir Hinweise, was wir weniger machen sollten, da es den Lebenssinn und damit nicht nur die Anstrengungsbereitschaft eines Lernenden, sondern auch das Denkvermögen belastet. Zu allgemein zehrenden Situationen gehören langes Zuhören, langes Warten, langes Abschreiben, unpassende Angebote, Überforderung und Unterforderung.

Was nährt?

Im Beschreibenden von nährenden Situationen für eine ganze Klasse oder auch einen Einzelnen erhalten wir Hinweise, was wir mehr anbieten sollten. Zu allgemein nährenden Situationen gehören passende, didaktisch fundierte, handlungsorientierte Unterrichtsangebote, Ermöglichen von eigenen Denk- und Handlungsprodukten der Lernenden, individuelle Angebote innerhalb eines Klassenklimas, das Vielfalt wertschätzt. Besonders nährend im wahrsten Sinn des Wortes sind mit Nahrungsaufnahmen verbundene Projekte wie das Gestalten eines Cafés (siehe unten) oder obige „Eierkuchenwoche“.

Vitalität der Lehrer

Es gibt nichts Inspirierenderes als die Vielfalt der Worte, Gedanken und Taten der Lernenden zu den behandelten Themen und nichts Langweiligeres als die Überzeugungen von uns Lehrenden. Neues, Unerwartetes, Witziges vitalisiert, der immer gleiche, anstrengende Trott devitalisiert. Auf dem Weg Klassenlehrerin zu werden, eröffnete mir ein niederländischer Kollege: „Wenn du müde aus dem Unterricht kommst und die Kinder noch Kraft ohne Ende haben, ist etwas falsch. Wir müssen den Kindern Arbeit abverlangen und selbst beschwingt aus dem Unterricht kommen.“ Ich habe mir das damals sehr zu Herzen genommen und meine eigene Vitalität und Freude über die Lernprodukte meiner Schülerinnen als Indikator für den Lebenssinn der Klasse und meiner selbst genommen. Die Anstrengung lag weniger in der Unterrichtssituation selbst, sondern im Finden einer tragfähigen Unterrichtsidee und der Vorbereitung.

Nach 35 Jahren Begegnung mit unzähligen Lehrerpersönlichkeiten kann sich sagen: Mangelnde Wertschätzung, wenig effektive Konferenzen im Rahmen der Selbstverwaltung und Festhalten an überkommenen Unterrichtsüberzeugungen zehren. Eine verlässlich und liebevoll gepflegte Wertschätzungskultur an der Schule, gemeinsame Unterrichtsvorbereitungen und Flexibilität im Denken nähren.

Unterrichtsbeispiel zum Thema Leben und Sinn

Bei Carina war eine Dyskalkulie schon in der ersten Klasse diagnostiziert worden. Die Mutter, ein sehr ängstlicher Mensch und selbst davon betroffen, hatte schnell eine externe Diagnostik veranlasst. Also mussten in der nächsten Epoche Leben und Sinn zusammen kommen, um etwas gegen Carinas doppelte Verunsicherung zu unternehmen. Es war Sommer und nichts lag näher als eine „Eisepoche“ im Rahmen anfänglicher multiplikativer Strukturen. Am Montag der ersten Woche gingen wir erst einmal gemeinsam Eisessen. Wir sprachen im Anschluss über Lieblingseissorten und ich erinnere mich noch an das staunende Mitleid der Kinder, als ich ihnen eröffnete, dass es in meiner Kindheit nur drei Sorten gab: Erdbeere, Vanille und Schokolade.

Dieser Auftakt trug dazu bei, mögliche Widerstände gegenüber dem Fach Mathematik gleich im Keime zu besänftigen. Zuerst widmeten wir uns der Kombinatorik mit Hilfe von Muggelsteinen, verschieden farbigen Pappscheiben und auch zeichnend beschäftigen sich die Kinder mit der Aufgaben: Ihr habt drei verschiedene Eissorten und dürft euch drei Bällchen bestellen. Wie viel Möglichkeiten findet ihr heraus? Genährt durch das eigene Erleben, durch bewegtes Handeln und durch eine offene Fragestellung, bei der es nicht um ein richtiges Ergebnis ging, sondern um den forschenden Weg jedes einzelnen Kindes, stieg Carina sofort beherzt ein. Gute zwei Wochen später, als wir das von den Kindern entwickelte, berechnete und gestaltete Eiscafé für Eltern und Kinder an einem Donnerstagnachmittag eröffneten (mit den nun zu meinem Erstaunten vorher gemeinsam abgestimmten Sorten: Erdbeere, Vanille und Schokolade), war Carina eine der aktivsten beim Bedienen und Abkassieren, ganz im Flow. Strahlend ging sie nach Hause: Leben und Sinn in Harmonie.

Fragen an die Lehrenden

  • Welche Situationen in der Schule zehren, welche nähren mich selbst?
  • Welche drei Aspekte in diesem Zusammenhang möchte ich verändern?
  • Wie erkenne ich, welche Situationen für einzelne Schülerinnen zehrend oder nährend sind?
  • Was ist meine Idee für eine nächste nährende Epoche?
  • Was haben die Gedanken zu Leben und Sinn mir gebracht?

© Uta Stolz, Februar 2023

1 Henning Köhler, Von traurigen, ängstlichen und unruhigen Kindern, Stuttgart 2014