Sehen – Einsicht – Durchblick
Gedanken zu Sehsinn und Unterricht
Als Sehende sind wir über unsere Augen besonders mit der Welt verbunden: „Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet …“, so beginnt der Morgenspruch für die Unterstufe. Licht und Klarheit gehören zusammen.
1. Die Einsicht der Lehrenden
Rebecca war zum ersten Mal in der vierten Klasse einer Förderschule und ich saß im Rahmen eines Schulentwicklungsprozesses neben ihr. Es galt, einen Stier von der Tafel mit Wachsblöckchen in großen Schwüngen ins Epochenheft abzumalen, Neuland für Rebecca. Nachdem sie den Stier ausführlich betrachtet hatte und den Bewegungsinstruktionen der Lehrerin gefolgt war, begann sie mit der Arbeit. Plötzlich stellte ich fest, dass sie die Augen dabei geschlossen hatte. „Ich glaube, es gelingt dir besser, wenn du die Augen dabei öffnest“, war meine hilflose Bemerkung. Sie schaute mich unverwandt an: “Ja, ich weiß, aber so bin ich meinem Vater näher, der ist nämlich blind.“ Es gibt so viele Sichtweisen, die Lehrende und Lernende leiten. Ich war in dieser Situation die Lernende gewesen.
2. Der Tisch ist gedeckt
Erwartungsvoll saßen alle 24 Kinder der jahrgangsgemischten Klasse 1-3 eines Montags am Boden im Kreis und schauten auf die liebevoll und detailreich mit Pappmaschee gestaltete und bemalte Boddenlandschaft Rügens mit ihren vielen Einbuchtungen, angegliederten Inselchen und ihren Erhebungen, in die Sand, Feuersteine, Donnerkeile, Muscheln und Vieles mehr gebettet und einzelne Beschriftungen hinzugefügt waren: ein reich gedeckter Tisch. Fast ein sogenannter stummer Impuls war es, als die Lehrerin fragte: was erkennt ihr und was kennt ihr? Die Kinder zeigten, benannten und berichteten, die Zuhörenden folgten den Fingern mit ihren Augen und das äußere dreidimensionale Bild war Anker auf dem Weg zum inneren Bild. Dass dieses innere Bild allein durch Zuhören vor dem inneren Auge des Kindes erstehen und dort auch verbleiben möge, gehört erstaunlicherweise zu den innigsten und irrigsten Lehrerwünschen, von Konfuzius etwa 500 vor Christus schon demaskiert: Erzähle mir und ich vergesse. Zeige mir und ich erinnere. Lass es mich tun und ich verstehe.
3. Der visuelle Lernanker und der Lernzeitenraum
Noch befinden wir uns auf unserer Reise bei den sogenannten „mittleren“ Sinnen der 12-Sinnes-Lehre Rudolf Steiners. Dennoch passt hier – vor allen Dingen für den Mathematikunterricht – der Verweis auf das EIS-Prinzip, das Jerome Bruner 1964 formuliert hat. Hierbei wird die konkrete Handlungsebene durch eine visuelle Darstellung ergänzt, um schließlich auf der formalen Rechenebene zu landen. Also den Lernenden werden zwei Anker gereicht: Ein Anker im Bereich der unteren Sinne durch das selber Tun und ein visueller Anker durch eine ikonische (bildhafte) Darstellung, in der das Getane nachklingt und das zu Denkende schon sichtbar wird.
Da wir grundsätzlich über die Augen zugreifen und fokussieren können, wenn wir den Blick auf einen Lerngegenstand richten, entdecken und erkennen, erleichtert dieses Prinzip unsere gesamte pädagogische Arbeit. Es ist nahezu ein Markenzeichen für die Waldorf-Heftarbeit mit ihrer ausführlichen, farbenfrohen Bebilderung geworden. Die Raumgestaltung einer Klasse mit ausgewählten Bildern und Farben, die nicht lernzielorientiert ist, sondern eine wohliges altersentsprechendes Grundgefühl begünstigen soll, gehört ebenfalls zu den Essentials.
Das reicht aus meiner Sicht nicht aus: Lernende benötigen auch im Klassenraum visuelle Anker. Eine Mutter schaute sich auf einem Elternabend plötzlich verdutzt im Klassenzimmer der zweiten Klasse um und fragte: „Frau Stolz, wo ist denn ihr Jahreszeitentisch?“ Ich erklärte ihr mein Prinzip des Lernzeitenraums1 . An den Fenstern waren zu den vier Elementen (Franziskusepoche) Transparentbilder zu sehen, über der Tafel prangten die gespiegelten Symmetriebilder zum Thema Herbstblätter (Formenzeichnen), an der Tür waren einige geometrische Darstellungen des Rechtecksmodells und der entsprechenden Einmaleinsaufgaben (Multiplikation) zu sehen, diese würden noch ergänzt werden. Die Tafelbilder gehörten zur laufenden Fabelepoche, ebenso die Satzanfänge auf laminierten Karten. Und natürlich unser Wort des Tages. Diese würden nach der Epoche weiter wandern in Behältnisse an der Wand, aus denen sich die Kinder bei künftigen Schreibaufträgen bedienen konnten. Aus jeder Epoche entstand ein meist von den Kindern gestalteter visueller Lernanker. Bis zu den Sommerferien würde der ganze Raum gefüllt sein: Ein Lernzeitenraum, in dem über die Augen das Erlebte und Erlernte konkret zu greifen war.
1 zu meiner Ehrenrettung: natürlich gab es, wenn auch filzpüppchen- und wurzellos, ein minimales Jahreszeitenarrangement
4. Sehen lernen
Auch Sehen muss gelernt sein, denn ohne eine vorbereitete, in Sprache getränkte, innere Struktur kann kein Erkennen stattfinden. Das wurde mir schmerzlich bewusst, als ich mit meiner achten Klasse auf dem Weg zum Forstpraktikum in das Todtmooser Moorgebiet bei Sinsheim-Steinfurt Pause machte, so dass wir das Technikmuseum mit Concord und Tupolew, Oldtimern und Vielem mehr anschauen konnten. Ich staunte nicht schlecht, als die Bande lustlos und rasch durchmarschierte und fürchtete um die Arbeit im Schwarzwald. Doch oh Wunder: mit offenem Mund hörten die Achtklässler:innen dem urigen Biologen und seinen lebhaften Schilderungen zu. Man konnte ihnen die inneren Bilder fast von außen ansehen. Als wir dann Frickingen erkundeten, stürmten drei Mädchen, die schon in der Kirche waren, auf mich zu: „Frau Stolz, was ist das für ein Stil, das ist keine Gotik, keine Romanik und keine Renaissance.“ Es war der barocke Stil, in den wir uns im Kölner Raum und auf der vorherigen Reise nach Stralsund nicht vertieft hatten. Die Mädchen waren zwar beruhigt, aber dennoch leicht irritiert, das wir das nicht vorher ausführlich bearbeitet hatten. Sehen will gelernt sein, auch am außerschulischen Lernort, von Klein auf. Ich kam leider nicht mehr dazu, für meine folgende Klasse einen Lehrplan „Technik“ oder „Auto“ oder „Fliegen“ zu entwickeln und auch dieses „Sehen“ Schritt für Schritt genüsslich aufzubauen.
5. Unterrichtsbeispiel zu SEHEN – EINSICHT – DURCHBLICK
Es war Osterzeit in der zweiten Klasse und die Kinder sollten sich den Hunderterraum erobern. Sie durften im Klassenraum Ostereier, suchen die sie schließlich in einem großen Eierkarton (10 mal 10) einordneten. Es war nicht für alle gleich einfach, sich an die vorgeschriebene Reihenfolge von links nach rechts zu halten, um mit „einem Blick“ die Reihenfolge zu erkennen, aber schließlich gelang es allen. Nun war es ein leichtes, ein entsprechendes Abbild, noch in Punktenotation als Hilfe zu nehmen, das schließlich in einem waagrechten Strich für die Zehner und Punkten für die Einer mündete. Liebevoll hatte die Lehrerin jeden Schritt mit maßgeschneiderten Arbeitsblättern begleitet, in die sie sogar die Kinderzeichnungen integriert hatte. Lea sagte ihr am Ende der Epoche: „Das mit dem Rechnen habe ich nie so richtig verstanden, aber mit den Eiern blicke ich jetzt durch!“
6. Fragen an die Lehrenden
- Was genau bekommen Ihre Schüler:innen im Klassenzimmer zu sehen?
- Welche visuellen Anker gibt es jenseits des Tafelbildes für die Lernenden?
- Richten die Zuhörer ihre Augen auf die Sprecher?
- Was ist Ihre Sicht zum Thema Lernzeitenraum und wie könnten Sie dieses Konzept umsetzen?
- Wie schaffen Sie im Allgemeinen Übersicht?
© Uta Stolz, Juli 2023